Betrachtungsweisen

Jürgen Pagel

Betrachtungsweisen

„Die Wirkung eines Bildes liegt im Auge des Betrachters“ oder „Ein gutes Foto ist ein Foto, auf das man länger als eine Sekunde schaut“ – letzteres Zitat stammt übrigens von Henri Cartier-Bresson – meint, wer länger als eine Sekunde auf ein Bild schaut, hat Interesse an der Geschichte, die der Fotograf damit „erzählen“ möchte, derjenige sucht in der Fotografie nach weiteren Inhalten und hat Lust auf eine weitergehende Betrachtung, die über den flüchtigen Augenblick hinausgeht.
Eine Sekunde mag Ihnen sehr kurz vorkommen. Wenn Sie jedoch bedenken, dass die durchschnittliche Verweildauer auf einem Instagram-Post nur 0,52 Sekunden beträgt, in denen es nicht möglich ist, alle Inhalte zu erfassen, dann ist eine Sekunde schon fast eine Ewigkeit. Pro Sekunde werden mehr als 800 Beiträge veröffentlicht. Diese landen nicht alle bei Ihnen. Aber selbst der kleine Bruchteil von drei Beiträgen – gepaart mit Bildern – ist ausreichend, um schnell den Überblick zu verlieren.

Wenn Sie es also schaffen, dass jemand eine einzige Sekunde „in“ Ihrer Fotografie verweilt, ist das eine beeindruckende Leistung, denn in dieser Zeit „verpasst“ er (der Mensch) theoretisch 799 weitere Beiträge, die aufzuholen nicht mehr möglich ist.

Werden Sie sich dessen bewusst wird schnell klar, wie vielfältig die Prozesse der Wahrnehmung in unserem Gehirn vonstatten gehen.

Nehmen wir als Beispiel das Bild eines blühenden Kirschbaumes. Folgende Assoziationen mögen dem Betrachter in den Sinn kommen:


  • Schönes Foto.
  • Hmmmm, lecker – Kirschen.
  • Kirschbaum, Kirschbäume, Wiese.
  • Erntezeit.
  • Herbst.
  • Gesund.
  • Allergie, darf ich nicht essen.
  • Ich mag lieber Birnen.
  • Kirschen über die Ohren gehängt.


Keine dieser Assoziationen ist richtig oder falsch. Es geht dabei nicht um deren Bewertung, sondern um das, was Sie mit diesem Bild aussagen möchten.

Dabei verändert sich die Wirkung des Bildes, wenn der Betrachter die Geschichte dahinter kennt.

Warum haben Sie diese Blüten fotografiert?


  • Weil es Sie selbst an einen Ausflug erinnert, den Sie mit Ihrer/ Ihrem Liebsten im Herbst unternommen haben und Sie sich zum ersten Mal unter einem Kirschbaum geküsst haben?
  • Weil Sie selbst Kirschen gerne mögen?
  • Weil die Fotografie Teil einer Serie über Kirschen ist, die Sie von der Blüte bis zur reifen Frucht fotografisch festhalten?
  • Weil Kirschen frisch vom Baum gepflückt am besten schmecken?
  • Möglich wäre es auch, an die Bienen in der Wiese zu denken und dass es vielleicht ungeschickt wäre, barfuß zu laufen.
  • Oder der Betrachter denkt in diesem Moment an die Spritzmittel, die jährlich ausgebracht werden und den Bestand an Insekten gefährden.
  • Vielleicht gehen seine Gedanken bis zur Politik des Europaparlaments, das die Freigabe für Glyphosat vermutlich über den 31.12.2023 hinaus verlängern wird, weil die EU-Lebensmittelbehörde nach neuen Analysen erneut zu dem Schluss gekommen ist, dass der umstrittene Unkrautvernichter Glyphosat nicht gefährlich für Mensch, Tier und Umwelt zu sein scheint und das Mittel damit gute Chancen hat, in der EU erlaubt zu bleiben.

Natürlich sind das keine Kirschen ;-).

Zugegeben, die letzten Ausführungen sind sehr komplex, aber für jemanden, den dieses Thema interessiert, sicher eine mögliche Assoziation – auch wenn das nicht Ihr Anliegen bei der Veröffentlichung Ihrer Fotografie war. Sie dachten dabei an den ersten Kuss und der Betrachter an Pflanzenschutzmittel.


Was dabei auch immer Ihre Gedanken gewesen sein mögen – der Betrachter hat seine eigene Interpretation, wenn er die Geschichte hinter dem Bild nicht kennt. Ansonsten ist eine Fotografie nur schön, interessant, uninteressant, lustig, nett, spannend oder auch nicht.


Fazit

Was auch immer Sie in dem unterschiedlichen Genre der Fotografie erzielen möchten, wobei es vollkommen in Ordnung ist, wenn Sie eine Fotografie „einfach nur so“ zeigen – Produktfotografie und Architekturfotografie ausgenommen, denn dabei geht es in der Regel um das Produkt oder den monumentalen Einfluss der Architektur verschiedener Epochen – wollen, muss Ihnen bei der Gestaltung der Aufnahme schon bewusst sein, dass die Betrachtungsweisen unterschiedlicher nicht sein können.


Bild einer Serie über die Harley-Davidson Forty-Eight

Bildserien eigenen sich hervorragend, um eine Geschichte zu erzählen. Was mit einem einzelnen Bild oftmals nicht gelingt, kommt in einer fotografischen Serie aus vier, fünf oder sechs Fotografien besser zum Ausdruck. Ausnahmen bestätigen wiederum diese Regel. Denken Sie dabei an das Bild des mit Brandwunden übersäten Mädchens während des Vietnam-Krieges, dass seinerzeit um die Welt ging und dem Fotografen zu einem zuvor nicht gedachten Ruhm verholfen hat. Oder an 1964, als das französische Elle-Magazin zu Newtons Auftraggebern hinzukam. Als seine berühmteste Modefotografie kann man das Bild Le Smoking bezeichnen, welches eine zierliche, androgyn gestylte Dame im Yves Saint Laurent Anzug, rauchend, in den Straßen von Paris zeigt und Helmut Newton über Nacht noch berühmter machte, als er es zu diesem Zeitpunkt sowieso schon war. Am 31. Oktober 2020 wäre er 100 Jahre alt geworden und noch immer erregen seine Fotografien die Gemüter.


Der Betrachter legt bei der Bewertung einer Fotografie andere Maßstäbe zu Grunde, als wir Fotografen das tun. Uns interessieren der Bildaufbau, die Art und Weise der Bildbearbeitung, die Motivwahl, die Blende, die Verschlusszeit und als Technik-Nerd die Kamera. All das interessiert den Betrachter nicht. Auf ihn wirkt ausschließlich die Fotografie selbst.


Und tatsächlich sind bis auf die oben genannten Ausnahmen oftmals die Bilder die Besten, die spontan fotografiert – sozusagen aus der Hüfte heraus „geschossen“ – mit spektakulären und ungewöhnlichen Perspektiven oder Motivdistanzen dem Betrachter Lust auf mehr bieten, Emotionen und Erinnerungen auslösen sowie zum Verweilen einladen.


Ein Grund mehr, sich von „althergebrachten“ Regeln zu lösen, zu experimentieren und nicht um jeden Preis irgendetwas zu fotografieren, das den Betrachter am Ende nur langweilt.


Eine Vielzahl der abertausenden Fotografien in den sozialen Medien ist fürchterlich langweilig, auch wenn sie auf den ersten Blick interessant wirken mögen. Sie wurden entweder extrem beschnitten, wobei man bei Aufnahmen mit einem 40 Megapixel-Sensor trotz der Verluste immer noch akzeptable Auflösungen erhält oder mehrfach durch künstliche Intelligenz verarbeitet, was grundsätzlich kein Fehler sein muss, sondern vielmehr zum Tagesgeschäft gehört. Dabei aber auch kein besonderes fotografisches Geschick erfordern, vor allem jedoch nicht die Realität widerspiegeln. Sie stellen eine vermeintliche Realität dar, die es in dieser Form nicht gibt – sicher eine mittlerweile vieldiskutierte Eigenschaft bei der Anwendung der KI. 


Dabei zeigt sich einmal mehr wie wichtig es ist, Augenmaß zu bewahren; alles zu nutzen, sich neuen Errungenschaften nicht zu verschließen, sie jedoch mit gesundem Menschenverstand einzusetzen.


Verwenden Sie stattdessen ungewöhnliche Perspektiven, einen überschaubaren Inhalt, gehen Sie nah heran, fotografieren Sie in Serien und arbeiten Sie sich vom Groben zum Feinen vor. Der geneigte Betrachter wird es Ihnen (hoffentlich) danken, wenn Sie mit spannenden Ansichten für Einsichten sorgen.


Den vollständigen Text können Sie wie gewohnt als PDF herunterladen.


©2023 Jürgen Pagel | Lichtwerk.Design

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Neunzehn58 Photographie

Fotografierender kleiner Junge
von Jürgen Pagel 27. November 2024
Ich möchte Ihr Interesse wecken, Ihnen die wichtigsten Begriffe und Regeln vermitteln und Sie motivieren, sich eingehender mit der Materie zu befassen. So können Sie mit Hilfe weiterreichender Literatur bzw. YouTube-Links Ihr Bedürfnis nach noch mehr Informationen stillen. Physikalische und wissenschaftliche Aspekte werden – so gut, dass in diesem Rahmen möglich ist – gewissenhaft und frei von geistigen Erfindungen behandelt. Dennoch schreitet die Zeit voran und was heute richtig ist, kann morgen bereits der Vergangenheit angehören. Das Lesen dieses Manuals befreit Sie also nicht von der Verpflichtung, sich selbst auf dem neusten Stand der Erkenntnis zu halten.
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Frau mit Kamera auf Safari
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Du kennst das sicher. Jeder Fotograf und jede Fotografin kennt das - ein Tag der Lustlosigkeit. Am Wochenende Zahnschmerzen gehabt, das Knie schmerzt und der Rücken zwickt. Kein Bock zum Fotografieren. Eigentlich nicht weiter schlimm. Aber sich dem Hinzugeben ist mir zuwider. Also den Hund und die Kamera geschnappt und das 100mm f/1.5 von TTArtisan aufgeschraubt (M42 auf Adapter für den X-Mount) - also auf die Kamera, nicht auf den Hund. Das Wetter nicht so toll. Kalt, feucht und diesig, erst gegen Mittag kam die Sonne hervor.
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Einfach nur da sein. Da sein am Ort, auf der Straße, im Wald, auf dem Feld – egal. Wo auch immer. Das ist das wichtigste Rüstzeug für die Fotografie. Da sein. Wer immer nur in den eigenen vier Wänden sitzt, steht oder liegt, hat es komfortabel. Du machst heute das Gleiche wie gestern. Das ist sogar sehr komfortabel. Aber du bist nicht da. Nicht da, wo etwas ist, was sich nicht wiederholen wird, das einmalig ist. Nur jetzt und heute. Morgen ist es vollkommen anders. Es zählt einzig der Moment. Das Hier und Jetzt. Genau in diesem Moment.
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von Jürgen Pagel 21. Oktober 2024
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Ist es langweilig, immer dasselbe zu fotografieren? Auch hier, wie in vielen anderen Lebenssituationen, antwortet Radio Eriwan*): „Es kommt darauf hin. Im Prinzip ja, aber …“.
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